Biographische Bausteine

Jörg Scherkamp der Maler und Dichter von Dr. Richard Hiepe

Jörg Scherkamp, geb. 1935, gelernter Buchdrucker, hat sich und seine Kunst zu Augsburg gebildet. Bilder wachsen aus Vorbildern. In Augsburg fand Scherkamp Ende der fünfziger-, Anfang der sechziger Jahre die glückliche Kon­stellation für den Aufgang seiner schöpferischen Intelli­genz. Wir sind gerade erst im Begriff, die Bedeutung der lokalhistorischen Umstände für die Entfaltung moderner Kunst wiederzuentdecken, nachdem Kunstgeschichts­schreibung und Kunstszene nach 1945 fast ausschließlich von den sogenannten internationalen Trends beherrscht schienen (die immer ein wenig an die Verflechtung von multinationalen Konzernen erinnern).

Als normaler Entwicklungsfall der fünfziger Jahre wäre Scherkamps autodidaktischer Bildungshunger mit den dekorativen postmodernistischen Kunstvorstellungen abgespeist worden, mit denen man damals bis in die Metro­polen zur lokalen Größe aufsteigen konnte. Die wirklich­keitsfeindlichen Strömungen waren noch voll am Zuge. „Da legte sich“, schrieb ein Karlsruher Realist über diese Jahre, „die öffentliche Meinung wie eine Bleihand auf unsere Schulter.“ Werner Haftmann hatte die Parole aus­gegeben: „Die bildende Kunst ist abstrakt geworden.“ In Wirklichkeit ging es in die Unverbindlichkeit und Undeut­lichkeit der Form. Die Bilder sollten sich heraushalten aus dem Wohl und Wehe der Gesellschaft, der Ideen und der Geschichte. Das wohltemperierte bildnerische Experiment als Unbedenklichkeitsbescheinigung in den Jahren des offenen Kalten Krieges.

Aber Scherkamp kam von unten, aus einem Arbeiterberuf, weitab von der Versuchung, das Erbe der Moderne auf passende Bilder für Einrichtungshäuser und Bungalows zu reduzieren. In dem jungen Buchdrucker zündeten die Ideen der Avantgarde noch in Schichten, aus welchen diese Kunst einmal zur Kunst der Weltrevolution aufgestanden war. Es bedurfte nur der Klärung dieser Zusammenhänge, um daraus die Flammen eines revolutionären Künstlerbe­wußtseins schlagen zu lassen. Zu diesem Nur gehören Menschen und Umstände – zeitgeschichtliche und schwer wägbare geschichtliche und lokalgeschichtliche.

In Augs­burg traf Scherkamp mit seinem gleichgesinnten Freundes­kreis – den jungen Malern Hans Heichele und Frieder Pfister – auf den 1924 geborenen Zeichner Carlo Schelle­mann, der im Alleingang, mit der Kraft seiner massiven Persönlichkeit, diese neuen Bildmöglichkeiten bereits erkannt hatte und höchst anspruchsvoll vorzeichnete. Schellemann wiederum schärfte sein Form- und Problem­bewußtsein in der Auseinandersetzung mit dem – politisch völlig konträren – Karl Kunz, dessen figurenreiche, phan­tastische Gemälde großartige, aber unaussprechliche Inhalte zu transportieren scheinen, eine Sonderform der surrealistischen Kunstsprache.

Diese Inhalte mußten zum Sprechen, aus dem Dornröschenschlaf einer individuellen Mythologie zu erwecken sein. Schellemann – mit den sich zusammenballenden oppositionellen Strömungen hinter der saturierten Maske der Wirtschaftswunderjahre schon tastend verbunden – zeichnete 1953 die Bleistiftstudie „Einbruch ins Private“, eines der ersten Signale einer jungen, engagierten Kunst in der Bundesrepublik: ein Lie­bespaar auf dem Lager unter einer chinesischen Meditationslandschaft, konfrontiert mit einem Roboter auf Kra­kenfüßen; die neuen Maschinen gegen die Menschen oder vom Einbruch ins Private zum Ausbruch aus dem Privaten. Von dort waren es nur noch Schritte zum offenen Engage­ment mit der Massenbewegung um den Appell der Göttin­ger Professoren gegen den Atomtod und zur ideellen Kon­sequenz: Schellemanns Zeichnungszyklus zu „Staat und Revolution“ nach Lenin, der Staat als Festung der Reichen gegen die Massen, die moderne Form an ihrem ideellen Ursprung.

Denn Schellemann zeichnete baumeisterlich, bauhäuslerisch. von den Grundlehren der modernen Formerfahrung nicht anders überzeugt als von der Aufgabe, der bildenden Kunst ihre Stimme in der Klassenauseinandersetzung zurückzugeben. In dieser Verbindung von Ideal und Wirk­lichkeit fand auch Scherkamp seinen Weg. Schon als unausgesprochen malerische Begabung vor anderen Pro­riemen als der damals vorwiegend zeichnerisch engagierte Schellemann, mit der Farbe in einem ähnlich sinnlichen Verhältnis wie später als Dichter mit dem Wort, suchte Scherkamp sein Engagement ins Grundsätzliche der bildnerischen Gestaltung voranzutreiben. Es schwebten ihm eine Art von bildnerischen Gesetzestafeln vor, in denen eine Landschaft oder eine geballte Faust, aufgebaut aus dem Alphabet von Linien, Farben und räumlicher Form, das Alphabet der Schönheit und die Grundsätze des langandau­ernden Befreiungskampfes der Völker lehren sollten. Hinter dieser lokalen Konstellation standen noch andere Beispiele.

In Augsburg arbeitete Günther Strupp, geb. 1912. aus dem Masurischen hierher verschlagen, als junger Künstler von den Nazis verfolgt, hinter der Tarnmaske des Skurrilen und Grotesken einer der schärfsten Beobachter meiner Zeit und unserer Gesellschaft. Strupp malte in die­sen fünfziger Jahren Tafeln wie die „Nana von Frankfurt“ oder die „US-Golgatha-Company“, in denen durchaus der Maßstab eines George Grosz oder Dix an die sogenannte Freie Welt angelegt ist, nur verstand es die Bonner Repu­blik besser als die Weimarer, solche Kunst zu isolieren und totzuschweigen. Aber den Jungen war Strupp verbunden und uns eine große Bestätigung, als wir Ende der Fünfziger mit Schellemann und den Augsburgern die Kunstzeitschrift „tendenzen" starteten, als Forum solcher Kunstauffassungen und ihrer Traditionen.

    Zu Brechts Galilei, Federzeichnung, 1968–1972

Und über Augsburg schwebte der Geist des armen bb, der damals am Schiffbauerdamm in Berlin (DDR) den Galilei inszenierte und sich anschickte, dem herrschenden Antikommunismus in Kunst und Kultur das Fürchten zu lehren. Das bürgerliche Augsburg hatte alle Hände voll zu tun, diese Erbschaft auszuschlagen — bis zur Verweigerung einer Gedenktafel am Geburtshaus Brechts – nicht anders als das Bonner Parlament, in dem man den Dichter mit Horst Wessel verglich. Welche Gelegenheit für die Jungen, sich zu identifizieren — und welcher Maßstab! Brecht hat hier in der Stadt, die seine Sprache so entscheidend prägte, seine späte junge Garde gefunden.

Scherkamp hat diese lokalhistorischen Bezüge später noch weiter ausgebaut bis in die Geschichte dieser Metropole der frühbürgerlichen Revolution, Augsburg, die Stadt des sogenannten Petrarcameisters, der in seinem „Stände­baum“ zum ersten Male die Pyramide der Klassenherr­schaft über der Basis des arbeitenden Volkes darstellte, bis zum Augsburger Bürgermeister Schwarz, den sie zu Augs­burg henkten ob seines Umgangs mit niederem Volk. Augsburg war Scherkamp nie Heimat, unwirtlich wie die Städte geworden sind für die Städtebewohner, aber er konnte diese Stadt sowenig ihrer Gegenwart überlassen, wie er die geliebte schwäbische Landschaft oder die Ereig­nisse des revolutionären Befreiungskampfes dem unwirtli­chen Blick einer geschichtslos gewordenen Kunst überlas­sen konnte.

Er lebte in Augsburg mit dem Herzen in Vietnam oder bei den Interbrigaden im spanischen Bürger­krieg, bei dem gemarterten Sänger in Chile oder bei den berufsverbotenen Lehrern ein paar Straßen weiter – die Weltgeschichte in die alten Gassen, zwischen die Blechla­winen der neuen Straßen tragend. Seine Kunst wehte wie eine einsame rote Fahne in der Fuggerstadt. Der zweite Teil dieses Lebens bis zu seinem Herztod im Frühjahr 1983 ist anders zu schreiben. Scherkamp hatte sich vom Objekt zum Subjekt der Darstellung befördert.

Er wollte „wirken in dieser Zeit“, wie es die Kollwitz als Maßstab für ihre Kunst ausgab; und uns, die wir mit Jörg zusammenwirkten – in der Redaktion der „tendenzen“, bei den Künstlerinitiativen für Vietnam oder für die Mediengewerkschaft – fehlt dieser Mensch zumindest ebensosehr wie dieser Künstler. Scherkamp hat doppelt und dreifach gelebt. Neben der doppelten Kunst – auf den Dichter komme ich noch – stand die gesellschaftliche und politische Arbeit und die Lust zu leben; als einer der Letzten in der Weinstube und bei den Festen der Freunde, als erster beim gemeinsamen Zeichnen in der Landschaft, bei den Meetings und Demonstrationen.

Er mochte die Menschen und er war beliebt. Er überzeugte, wenn er den, üblichen Künstlergesprächen mit Klatsch und Tratsch, Eifersucht und Größenwahn plötzlich die Wendung zur Forderung, zur Initiative gab, aus der Boheme heraussto­ßend zur gesellschaftlichen Rolle des Künstlers, ob es eine Künstlergruppe zu gründen galt, einen Kunstverein, einen Protest zu formulieren, für die Rechte der Kollegen einzu­treten. Man nahm ihm seine marxistische Weltanschauung ab, sein Bekenntnis zu den Kommunisten.

Man fand das in seinen Bildern, in seinem Wesen. Er wirkte offen und solidarisch bis ins Tiefste. Solche werden gebraucht, solche werden akzeptiert. Kaum übersehbar sind seine Aktivitä­ten, schon in der eigenen Kunst: als Kleinverleger der schönen Linolschnittmappen zu eigenen Dichtungen und denen der Vorbilder: Brecht oder Paul Eluard, als Wand­bildgestalter und Planer, wenn er mit Freunden solchen Aufträgen sofort wieder den Charakter beispielgebender kulturpolitischer Initiativen gab, als Maler von Geschichts­bildern, zu denen er fundierte Kommentare gab. Dann die Vorträge: Leger oder Miro. Jörg hatte ein ungemein dich­tes Verhältnis zu großer Kunst und sah Schwächen mit großem Blick.

Wenn er uns in der Redaktion das Erlebnis der Museen für Miro und Dali auf der Spanienreise auseinandersetzte, verstand man den Flug der Freiheitsvögel und den Sumpf der Bourgeoisie ganz anders als im einschlägigen Schrift­tum. So konnte Jörg auch schreiben und vor allem: dich­ten. Er stand unmittelbar, brüderlich, neben Menschen und Bildern, neben Bergen, Flüssen und historischen Per­sönlichkeiten, wie er in den gesellschaftlichen und künstle­rischen Auseinandersetzungen stand. Scherkamp gehörte zu den zentralen Figuren im Schwäbischen und Augsburger Berufsverband Bildender Künstler.

    Gegen Berufsverbote (3. Tafel), 1977

Er spielte eine wichtige Rolle in den Werkkreisen schreibender und bildnerisch tätiger Arbeiter, weil er nie seine eigene Entwicklung als Autodidakt aus der Arbeiterklasse vergaß, das ungenutzte Potential einer Kultur, die ihre Künstler und ihre Kunst sozial nicht anders aussiebt als ihre Studenten. Und selbstverständlich war Scherkamp dabei mit Bildern und Diskussionen, mit Redebeiträgen und Vorschlägen auf den großen und kleinen Aktionen während der Studenten­bewegung, auf den Festivals und Tagungen der Friedens­kräfte, bei den Aktivitäten gegen Berufsverbote, bei den großen und kleinen Gesprächen unserer Zeitschrift „ten­denzen.“

Flugblätter, bemalte Stelltafeln, Linolschnitte gegen Berufsverbote und gegen Raketen, das kam so nebenbei aus seinem Atelier, während der Termin für ein kollektiv gemaltes Wandbild drängte und ein neues Tryptichon im Entstehen war. Scherkamp lebte doppelt und dreifach. Für ein langes Leben reichte das wohl nicht. 

Aspekte seiner Kunst

Ein spätes Gemälde, etwa ein halbes Jahr vor seinem frühen Tod im Februar ,83', aus der Bildfolge zu Peter Weiss' Roman „Die Ästhetik des Widerstands" mit dem Titel: „Die Bedrohung". Die Landschaft und der Himmel in hellen, frühlingshaften Farben, die Menschen als zeichenhafte Halbfigur und Kopfprofil schon halb verschattet.

    Ästhetik des Widerstands (1. Tafel – Bedrohung)

Und darüber die bedrohlichen schwarzen Figuren: eine ausgestreckte Hand im Heil- oder Hitlergruß, das Bild überfahrend wie ein Düsenjäger, ein reptilartiger Kopf. Schnappt er nach der kegelförmigen, stürzenden Figur oben oder stößt er demagogisches Geschrei aus gegen die im Schatten, gegen Juden und Kommunisten? Den Anlass der Bilderfindung bilden Peter Weiss' hochgespannte Einsichten in den Zusammenhang von politischem und ästhetischem Befreiungskampf am Beispiel des deutschen Faschismus. Die Bedrohung jedoch, die Scherkamp malte, galt uns. gilt Euroshima. Was da aufsteigt, lastet auf den Menschen unserer Tage, so, wie sich aus dem schwarzen Arm die Raketenfinger entwickeln mit den weißen Konturen einer Knochenhand und im Mittelgrund eine vieldeutige Wolkenformation aufsteigt – man weiß nicht – ist es aufsteigender Rauch, eine riesige Blume oder der schreckliche Pilz der Bombe?

Mit gutem Grund haben daher seine Künstlerfreunde Scherkamps Gemälde zum Titelbild ihres Ausstellungskataloges „Friedenszeichen – Kriegsmale" gemacht – ihrem Beitrag zur Ästhetik im Widerstand heute. Und unabweisbar ist wohl auch, daß Scherkamp hier die Bedrohung des eigenen Lebens geahnt hat. „Ein gutes Bild", schrieb er in seinen letzten Aufzeichnungen, "soll einen harten Klang haben." Dies ist ein sehr gutes Bild.

Scherkamps Formensprache steht nicht in der Tradition, in der sich in Deutschland engagierte Kunst entwickelt hat und im allgemeinen auch heute entwickelt. Scherkamp, der leidenschaftlich darauf bestand, ein Realist zu sein, ist weit aus dem in unserer Kunstgeschichte entwickelten Realismusbegriff ausgebrochen, ohne dessen Inhalte preiszugeben. Es zeigt sich, daß er in diesem Punkte aus der Kunstlandschaft hervorragt.

Er trägt inhaltliche Dimensionen in sein geometrisch-kubisches Formgerüst. Die schwarzen Scherenschnitt-Silhuetten. der Todesboten auf der „Bedrohung“ überdecken das farbige Ensemble, in welchem die Formen wie aus Buntpapier ausgeschnitten scheinen. Die Menschen als Figuren, aufs Grundsätzliche reduziert — „Symbolfiguren“, wie er das nannte. Aber in der Zone der vieldeutigen Wolkenformation löst sich der harte Gegensatz zwischen Schwarz und Bunt, zwischen reinen Farben, Linien und Umrissen in zarte Malerei auf. Wie Schlieren in rasch strömendem Wasser bilden sich Farbbahnen. Zu der dramatischen, plakativen Spannung des bildnerischen Aufrisses etwas wie schöpferische Unruhe im Hintergrund, die Mobilisierung von Widersprüchen, auch von ungelösten, die unzähmbaren Energien der Form, die inhaltlichen Deutungsmöglichkeiten überschreitend und dies als Teil des Bildinhaltes selbst: im Kampf gegen die größte Schwierigkeit, in welcher die Menschheit gegenwärtig steckt, hielt Jörg eine weit ins Innere der Ästhetik vorangetriebene Position. 

Ich gehe zurück in sein Frühwerk, zu dem „Südfranzösischen Dorf“ von 1962. Da war er 27 Jahre alt. Der Stil zeigt sich schon ausgeprägt, wenn auch noch in einer gewissen Naivität: die alte Stadtmauer, Häuser und Bäume als Farbschnitzel vor dem plastischen, fast abbildhaften Bergmassiv. Kubische Bildfiguren darunter, das Flächige und die Plastizität, die formale Aufgabenstellung demonstrativ verbindend. Und der schwermütige Grundton ist schon da, der lange Schatten, der in viele Bilder von Jörg fällt. Wer ihn nicht näher kannte, mochte diese Untertöne seines Wesens und seiner Kunst nicht für möglich halten. Jörg kam und ging, womöglich, als Aufreißer, der einen Tisch voller Leute mühelos beschäftigte, prall voll von Erlebtem, Gesehenem, Gehörtem, Gelesenem, das es mitzuteilen galt – und war er einmal am Zuge, war er nicht zu halten. Da war Überfluß in seinem gesellschaftlichen Wesen, der sich verströmen wollte. Und in anderen Momenten meinte er dann, vor dem Nichts zu stehen.

In seiner Kunst organisierte er den Widerstand gegen diese bedrohlichen Gezeitenwechsel des Ichs. Das Ästhetische das Scherkamp beschäftigte, hatte meditative, philosophische, erkenntnistheoretische Züge. Seine Bilder baute er aus Kräften, die sich sammeln, konzentrieren, mit grundsätzlichen Lösungen hervortreten wollten. Die Elemente des Bildaufbaus, die er in der sogenannten Grundlehre des deutschen „Bauhauses“ über Schellemann kennenlernte und am Konstruktivismus und Kubismus weiter studierte, galten ihm als Nonplusultra der bildnerischen Form.

Auf der Suche nach solchen Elementen in der sichtbaren Wirklichkeit kam er zur Landschaft, zur Geometrie der Felder, zu den Wölbungen und Kuhlen der schwäbischen Hügel, den erratischen Formblöcken der Berge Kataloniens, zu den großen Strömen und Straßen, als breiten Farbbahnen: Baumkronen wie Kugeln und Kolben, die Sonne als Scheibe, die Wolken als bunte Bänder, Stern und Blume, Hammer und Sichel, Pfeile die vorwärtsstoßen (wie auf dem schönen Bildnis des Friedrich Engels) und Schranken, die die Wege versperren als Signale für Revolution und Konterrevolution.

Formelemente und Sinnzeichen — Scherkamp konnte sich über die Notwendigkeit solcher Bildarchitektur bis zur Wut ereifern. Unweigerlich beschwor er bei Kunstgesprächen die bildnerische Form als eine selbständige Größe, wie sie aus den Gegenständen der Wirklichkeit herauszuarbeiten und den Gegenständen der Vorstellung zu verleihen sei. Seine Gemälde, Aquarelle und Linolschnitte sind Lehr­stücke dieser bildnerischen Methode. Ich behielt immer ein leises Kopfschütteln über diese Selbständigkeit der Formen.

Wenn Dürer in seinem Tagebuch schreibt: „Die Kunst steckt in der Natur. Du mußt sie reißen (gemeint ist ,zeichnen') heraus“, so liegt die Betonung nicht einseitig auf „heraus“, sondern zumindest ebenso auf „steckt darin.“ Dürers Kunst bereichert mit ihrem expliziten Formgefühl unsere Erfahrung der Welt. Was sich in der Neuzeit auf das Herausreißen der Form aus der Natur explizierte, hat zwar unser Formgefühl ungeheuer erweitert, wurde aber bezahlt mit einem Dahinsiechen der durch Kunst vermittelten Wirklichkeitserfahrung (die manche der Fotografie oder dem Fernsehen überlassen zu können meinten).

Scherkamp hat lange mit der Schwierigkeit gerungen, seinen Anspruch als Realist in der geometrisch gesetzten Bildarchitektur zu verankern. Der Mensch läßt sich in der Kunst nicht dauerhaft auf Figuren wie in Verkehrszeichen reduzieren. Seine höhere Organisiertheit verlangt eine höhere bildnerische Geometrie. Der entscheidende Schritt in diese Richtung gelang Scherkamp in seinen ersten großen Figuren- und Geschichtsbildern Ende der sechziger Jahre.

Er entdeckte Gestik, Pose und stilisierte Bewegung als das verbindende und belebende Agens zwischen Form und Wirklichkeit, zwischen Stil und Leben. Hände, Arme und ganze Figuren zelebrieren von nun an das Bildgeschehen wie die Schauspieler des Brechtschen Theaters: sie führen sich selbst als Figuren, als Sinnzitate vor, sie agieren als bildnerische Zeichen ihrer selbst. Auf die Brechtsche Theorie der „Verfremdung“ kam Jörg immer wieder zu sprechen. 

Seine besten Bilder erinnern an hoch stilisiertes bildneri­sches Ballett, wenn auch die Formen nun Gesten vollführen und sich in Posen werfen. „Explodierendstarr“ nannte Man Ray in den dreißiger Jahren seine fotografische Mehrfachbelichtung einer Tänzerin, deren Konturen wie die eines Feuerwerkskörpers in scharfe abstrakte Zeichen aufgehen. Das ist ein Begriff der gut paßt auf die Dynamik und die Härte der Scherkampschen Formensprache.

Das Gestische verband sich mit den Sinnzeichen, mit einmontierten Wörtern oder Parolen, es gibt dem Pathos die Würde und dem Phantastischen die Glaubhaftigkeit. Hände können nun, wie auf „An alle" (Titelbild) als die Gestalten von Demonstranten in das Bild marschieren, Gesichter zeigen sich als Gesten für Gefühle, für Schmerz und Zorn, Jubel und Leidenschaft.

Das erinnert oft an die älteste theatralische Darstellungsform mit Masken, diese anspruchsvollste Form der Inszenierung großer Inhalte. Im Spätwerk durchdringen sich diese Darstellungsansprüche zu einem dichten Geflecht. In dem Bildnis der Irmgard R., die mit Jörg die letzten, viel zu kurzen Jahre lebte, sind Landschaftselemente aufgegangen wie keimende Saat, die Arme umfassen Kopf und Brust wie Ströme das Ufer, die herbstlichen Farben sprechen von einer großen Ernte.

    Novemberrevolution 1918 (3. Tafel), 1968

Scherkamps ganz persönliche Bilderfindungen sind die Geschichtsdarstellungen. Er hatte ein höchst ungewöhnliches Verhältnis zum Weltgeschichtlichen in Vergangenheit und Gegenwart, zu den Helden und Opfern der Revolutionen, den Gemarterten des Bauernkrieges wie zu den Rosenbergs, zu dem erschossenen Garcia Lorca wie zu Karl und Rosa und den Matrosen der Novemberrevolution. Sie waren ihm vollständig anwesend, standen sozusagen um seine Staffelei.

Die Verteidigung Madrids gegen die Francotruppen, die Ermordung der demokratischen Anwälte in Franco-Spanien, die Folter und der Sieg der Gefolterten in Vietnam, das geschah ihm, dem Maler, selbst, wie er auf den Barrikaden von 1848 oder beim Hambacher Fest dabei war als moderner Bildberichter. Die Wirkung dieser zeichenhaften Chroniken, dieser bildnerischen Morsezeichen aus der Geschichte ist ganz eigentümlich: vor Jörgs Geschichtstafeln weiß man plötzlich, daß es Weltgeschichte ist, was wir täglich erleben. Es liegt an uns, daß daraus Weltgeschichte wird.

Der Dichter

Scherkamp wirkte selbst wie eine literarische Figur: seine immer leicht lärmenden Auftritte, die kameradeske Art, in der er mit den Sturzbächen seiner Rede den Gesprächspartner vereinnahmte, in der fabelhaften Undiszipliniertheit, mit der er Debatten zu unterbrechen und an sich zu reißen verstand, in seinen rabalaisschen Erzählungen, die so gut zu seinem barocken Auftreten passten. Unvergesslich sind mir die Stunden mit seiner Schwärmerei von einer Geisterbahn, über die er uns eine komplette Redaktionssitzung durcheinanderbrachte.

Er hatte sie im Garten eines Freundes in der Nähe von Augsburg aufgebaut gefunden, betriebsbereit, versteht sich, und was sich da bei einer Fete abspielte oder in Jörgs Vorstellungen einnistete, das übertraf wiedereinmal alle Erfindungen der Dichter. Gehörte die Vokabel „gespenstisch" schon vorher zu seinen geläufigen Ausdrücken? Spätestens seit dem Erlebnis mit der privaten Geisterbahn waren viele Dinge für Jörg „geschspenstisch" was lang gedehnt, mit zwei vollen zischenden ,Sch' gesprochen wurde: nicht nur Reagan oder Strauß, „geschspenstisch" waren ihm im durchaus abträglichen Sinne die Bilder Dalis oder das Wiedersehen mit einem verbürgerlichten alten Freund – auch eine missglückte Party konnte nach diesem Motto enden.

Er wollte seinen Fünfzigsten mit allen Freunden bei dieser Geisterbahn feiern. Die schauerlichen Figuren und grotesken Szenen sprudelten unter burschikosem Gelächter aus seinem Bericht. Der Triumph über das Grauen für kindlichen Gebrauch, das Marktschreierische solcher Apparate, falscher Schrecken und echter Spaß, Kaspereien vor kopflosen Mördern aus Pappmache – Jörg hatte eine Goldader entdeckt, die in sein Inneres führte. Den Dichter hätte wiederum niemand vermutet in dem großmäuligen Erzähler hinter seinen etlichen Bieren, wie man nach den ersten Begegnungen mit seinem Redeschwall nicht leicht die präzise, schöpferische Klugheit seiner Urteile und seiner Einfalle ausmachen konnte.

Geschrieben soll er schon sehr lange haben, wohl seit seinen ersten bildnerischen Unternehmungen, aber in den letzten Jahren ging in seiner inspirierten Sprache eine Welt auf, die viele Menschen bezauberte und die erst am Anfang erschlossen schien. Als Schreibender sehr unabhängig von der politischen Dichtung seiner Freunde, ein völlig anderer als Brecht, gerade wenn er ihn zitierte, schrieb Scherkamp als Sprechender in direkter Rede in klaren Sätzen von fabelhafter Selbstverständlichkeit wie am Ende seines Lobgedichtes auf Max Beckmanns Tryptichon „Abfahrt": „Wir sind noch einmal davongekommen/wohl wissend/daß die Bilder der Farbigkeit/uns begleiten werden/in diesem grauen Herbst."

Das klingt nach nichts, aber es klingt und aus diesem Klang steigt das Gedicht wie in den späten Versen über die Angst in unserer Zeit: „Wir haben die Messer über die Bauzäune geworfen / am hellichten Tag / diese Tage waren wie eine Hoffnung / weiß wie die Blüten der Kirschbäume / wissen wir doch sehr genau / daß wir am Ende des Regenbogens stehen." Das große poetische Bild bricht wie ein schöner Vogel aus dem Geäst der einfachen Rede.

Wir haben Ende der fünfziger Jahre zusammen Paul Eluards Poem „Der Sieg von Guernica" verlegt, in einem Pressendruck von 100 Exemplaren, als Raubdruck – versteht sich – die Linolschnitte von Jörg auf braunem Packpapier, in einem roten, genarbten Pappband, der sich, glaube ich, Elefantenhaut nennt. Damals hatte er schon diese Sprache entdeckt, die er bei Pablo Neruda, Raffael Alberti und Garcia Lorca weiter verfolgte, die hochgespannten Verbindungen des Politischen mit dem Poetischen, das Gegenstück zu seiner Entdeckung des großen Geometrischen und Kubischen am Beispiel der Franzosen, das Lateinische im Formgefühl.

Das prägte seine Sprache noch stärker als Brecht oder später Peter Weiss, die mehr auf die Methode seines Denkens und sein Geschichtsbewusstsein wirkten. „Holocaust in den Früchten der Fäulnis / im Raum der schwarzen Konturen / eingefaßt / das helle Blau der Wassertrommel / türkis der Zierrat / im Blut der abgehackten Hände / wissen wir wohl / wo die Sprechenden sitzen / die Ver­teiler der Sprachlosigkeit / in den bequemen Sesseln / wissen wir wohl / wer den Raum betritt mit der Peitsche / auszupeitschen die Hoffnung" (aus dem Beckmann-Gedicht).

Dieser Durchbruch zur inspirierten Rede erlaubte ihm, alles zu sagen, überlegen, gelassen, meisterhaft zu sagen, worum er in den Kaskaden seiner Gespräche oft vergeblich rang, bis er die Gedanken einfach laufen ließ wie eine Wortmeute, weil der Druck zu groß war. In seinen Dichtungen ist das Verhältnis zwischen dem Formalen und dem oft hochpolitischen Sinn manchmal noch freier als in seinen Bildern. Das Formale wird in Scherkamps dichterischer Sprache die zweite, unablösbare Haut der Begriffe. Und wie er es dabei vermochte, über die klassische Moderne hinauszudenken, in der kühnen Auslegung des Mittelbildes von Beckmanns Tryptichon „Abfahrt" über das Schicksal der Emigranten: „Gibt es einen hellen Morgen am Meer / wo wir sagen werden / wir nehmen alles mit / was uns wert war / mitzunehmen . . . / auch das was wir nicht kaufen konnten in den Städten / sondern vor allem das / was wir selbst / als ruhelose Emigranten / verschenken wollten / an einem blauen weiten Morgen am Meer?"

Das ist der ganze Scherkamp, der immer schenken wollte in seiner Begierde zu leben, sein — vielmehr unser — Lebensgefühl, in dem wir uns ständig fragen müssen, ob es die weiten, hellen Morgende am blauen Meer noch geben wird für dieses Geschlecht. Jörg Scherkamp, der nicht danach lebte, was man kaufen konnte in den Städten und der uns hinterließ, was ihm wert war, mitzunehmen.

Verfasst von Dr. Richard Hiepe
(Kunsthistoriker in München und Herausgeber der Kulturzeitschrift „tendenzen“, †1998)