Der Dichter
Scherkamp wirkte selbst wie eine literarische Figur: seine immer leicht lärmenden Auftritte, die kameradeske Art, in der er mit den Sturzbächen seiner Rede den Gesprächspartner vereinnahmte, in der fabelhaften Undiszipliniertheit, mit der er Debatten zu unterbrechen und an sich zu reißen verstand, in seinen rabalaisschen Erzählungen, die so gut zu seinem barocken Auftreten passten. Unvergesslich sind mir die Stunden mit seiner Schwärmerei von einer Geisterbahn, über die er uns eine komplette Redaktionssitzung durcheinanderbrachte.
Er hatte sie im Garten eines Freundes in der Nähe von Augsburg aufgebaut gefunden, betriebsbereit, versteht sich, und was sich da bei einer Fete abspielte oder in Jörgs Vorstellungen einnistete, das übertraf wiedereinmal alle Erfindungen der Dichter. Gehörte die Vokabel „gespenstisch" schon vorher zu seinen geläufigen Ausdrücken? Spätestens seit dem Erlebnis mit der privaten Geisterbahn waren viele Dinge für Jörg „geschspenstisch" was lang gedehnt, mit zwei vollen zischenden ,Sch' gesprochen wurde: nicht nur Reagan oder Strauß, „geschspenstisch" waren ihm im durchaus abträglichen Sinne die Bilder Dalis oder das Wiedersehen mit einem verbürgerlichten alten Freund – auch eine missglückte Party konnte nach diesem Motto enden.
Er wollte seinen Fünfzigsten mit allen Freunden bei dieser Geisterbahn feiern. Die schauerlichen Figuren und grotesken Szenen sprudelten unter burschikosem Gelächter aus seinem Bericht. Der Triumph über das Grauen für kindlichen Gebrauch, das Marktschreierische solcher Apparate, falscher Schrecken und echter Spaß, Kaspereien vor kopflosen Mördern aus Pappmache – Jörg hatte eine Goldader entdeckt, die in sein Inneres führte. Den Dichter hätte wiederum niemand vermutet in dem großmäuligen Erzähler hinter seinen etlichen Bieren, wie man nach den ersten Begegnungen mit seinem Redeschwall nicht leicht die präzise, schöpferische Klugheit seiner Urteile und seiner Einfalle ausmachen konnte.
Geschrieben soll er schon sehr lange haben, wohl seit seinen ersten bildnerischen Unternehmungen, aber in den letzten Jahren ging in seiner inspirierten Sprache eine Welt auf, die viele Menschen bezauberte und die erst am Anfang erschlossen schien. Als Schreibender sehr unabhängig von der politischen Dichtung seiner Freunde, ein völlig anderer als Brecht, gerade wenn er ihn zitierte, schrieb Scherkamp als Sprechender in direkter Rede in klaren Sätzen von fabelhafter Selbstverständlichkeit wie am Ende seines Lobgedichtes auf Max Beckmanns Tryptichon „Abfahrt": „Wir sind noch einmal davongekommen/wohl wissend/daß die Bilder der Farbigkeit/uns begleiten werden/in diesem grauen Herbst."
Das klingt nach nichts, aber es klingt und aus diesem Klang steigt das Gedicht wie in den späten Versen über die Angst in unserer Zeit: „Wir haben die Messer über die Bauzäune geworfen / am hellichten Tag / diese Tage waren wie eine Hoffnung / weiß wie die Blüten der Kirschbäume / wissen wir doch sehr genau / daß wir am Ende des Regenbogens stehen." Das große poetische Bild bricht wie ein schöner Vogel aus dem Geäst der einfachen Rede.
Wir haben Ende der fünfziger Jahre zusammen Paul Eluards Poem „Der Sieg von Guernica" verlegt, in einem Pressendruck von 100 Exemplaren, als Raubdruck – versteht sich – die Linolschnitte von Jörg auf braunem Packpapier, in einem roten, genarbten Pappband, der sich, glaube ich, Elefantenhaut nennt. Damals hatte er schon diese Sprache entdeckt, die er bei Pablo Neruda, Raffael Alberti und Garcia Lorca weiter verfolgte, die hochgespannten Verbindungen des Politischen mit dem Poetischen, das Gegenstück zu seiner Entdeckung des großen Geometrischen und Kubischen am Beispiel der Franzosen, das Lateinische im Formgefühl.
Das prägte seine Sprache noch stärker als Brecht oder später Peter Weiss, die mehr auf die Methode seines Denkens und sein Geschichtsbewusstsein wirkten. „Holocaust in den Früchten der Fäulnis / im Raum der schwarzen Konturen / eingefaßt / das helle Blau der Wassertrommel / türkis der Zierrat / im Blut der abgehackten Hände / wissen wir wohl / wo die Sprechenden sitzen / die Verteiler der Sprachlosigkeit / in den bequemen Sesseln / wissen wir wohl / wer den Raum betritt mit der Peitsche / auszupeitschen die Hoffnung" (aus dem Beckmann-Gedicht).
Dieser Durchbruch zur inspirierten Rede erlaubte ihm, alles zu sagen, überlegen, gelassen, meisterhaft zu sagen, worum er in den Kaskaden seiner Gespräche oft vergeblich rang, bis er die Gedanken einfach laufen ließ wie eine Wortmeute, weil der Druck zu groß war. In seinen Dichtungen ist das Verhältnis zwischen dem Formalen und dem oft hochpolitischen Sinn manchmal noch freier als in seinen Bildern. Das Formale wird in Scherkamps dichterischer Sprache die zweite, unablösbare Haut der Begriffe. Und wie er es dabei vermochte, über die klassische Moderne hinauszudenken, in der kühnen Auslegung des Mittelbildes von Beckmanns Tryptichon „Abfahrt" über das Schicksal der Emigranten: „Gibt es einen hellen Morgen am Meer / wo wir sagen werden / wir nehmen alles mit / was uns wert war / mitzunehmen . . . / auch das was wir nicht kaufen konnten in den Städten / sondern vor allem das / was wir selbst / als ruhelose Emigranten / verschenken wollten / an einem blauen weiten Morgen am Meer?"
Das ist der ganze Scherkamp, der immer schenken wollte in seiner Begierde zu leben, sein — vielmehr unser — Lebensgefühl, in dem wir uns ständig fragen müssen, ob es die weiten, hellen Morgende am blauen Meer noch geben wird für dieses Geschlecht. Jörg Scherkamp, der nicht danach lebte, was man kaufen konnte in den Städten und der uns hinterließ, was ihm wert war, mitzunehmen.